Alltagsberatung versus professionelle Beratung

Textauszug aus dem Buch von Detlef Barth (Hrsg.)

Beratungswissen auf den Punkt gebracht
Ein Handbuch für Studierende, professionelle Begleiter/-innen und alle, die es werden wollen

3. Alltagsberatung versus professionelle Beratung (S. 17 – 19)

In diesem Textauszug geht es vor allem um das Erkennen passiver Verhaltensweisen, also um die Frage, wie vermeide ich es, Aufgaben zu erledigen, die ich mir vorgenommen habe zu tun!

Häufig geht einer professionellen Beratung Alltagsberatung voraus, denn Klienten nutzen in der Regel verschiedene Möglichkeiten, um mit ihren Herausforderungen, Problemen, Konflikten oder gar Krisen fertig zu werden. Sie nehmen ihr soziales Netzwerk in Anspruch, informieren sich (in der Regel im Freundeskreis, bei Verwandten, mittels Ratgeberliteratur, bei Kollegen, im Internet), eignen sich Wissen und ggf. einige Kompetenzen an und fühlen sich schließlich stark genug, ihr Problem bzw. ihren Konflikt selber zu bereinigen. Andere suchen nach einer Phase von Alltagsberatungen schließlich professionelle Hilfe auf. Darüber hinaus gibt es aber auch Ratsuchende, die nur sehr zögerlich ihren Entwicklungsprozess angehen oder letztendlich passiv bleiben, in der Hoffnung, die Zeit werde schon ihre Probleme lösen.

Passive Verhaltensweisen sind Vermeidungsstrategien, die allen Menschen wohlbekannt, aber selten bewusst sind. Wer passiv ist und bleibt, wartet auf den Weihnachtsmann oder magischen Helfer und unternimmt nichts, um das anstehende Problem zu lösen. Aus der Transaktionsanalyse sind vier Formen bekannt, die anhand eines Beispiels erläutert werden: 1. Nichtstun 2. Überanpassung  3. Agitation  und  4. Implosion/Explosion.

Kennen Sie folgende Situation? Sie sitzen am Schreibtisch, um eine wichtige Aufgabe (Hausarbeit, Bachelor- oder Masterarbeit, Steuererklärung) zu erledigen. Sie kratzen sich zum fünften Male an Ihrer niedlichen Stupsnase und überlegen zum sechsten Male, wie Sie die vor sich liegende Aufgabe fertig stellen. Sie heben den Blick von Ihrem noch jungfräulich ausschauenden Dokument und sehen vor sich Ihre geliebte Bergpalme, die leider vom unteren Stamm her mehr braune als grüne Blätter aufweist. Das ist natürlich eine hervorragende Gelegenheit, das einstige Vorhaben ad acta zu legen und sich besorgten Blickes der kränkelnden Palme zuzuwenden. Bis zu diesem Punkt haben Sie nichts getan, um Ihre Aufgabe fertig zu stellen. Nichtstun ist die Form von Passivität, bei der am meisten Energie gebunden und eingefroren wird. Wie kann es weitergehen?

Da Sie bekannt sind für Ihre treusorgende Art, wenden Sie sich unvermittelt telefonisch an die nächste Freundin. Gott sei gedankt. Sie meldet sich und ehe Sie sich versehen, sind sie bei vielen anderen Themen angelangt. Die dürstende Palme ist längst vergessen. Zu guter Letzt sind Sie bei den Problemen Ihrer Freundin und leihen ihr bereitwillig beide Ohren für Dinge, die vielleicht schon viele Male durchgesprochen wurden, ohne dass daraus Konsequenzen folgten. Anstatt das Gespräch wieder auf Ihr ursprüngliches Anliegen zu lenken, passen Sie sich über Gebühr der Situation an und fühlen sich am Schluss des Gesprächs mitunter unwohl. Was Sie konkret tun, nennt man ‚Überanpassung‘. Überangepasste Menschen achten nicht darauf, was für sie im Moment wichtig ist. Sie vernachlässigen eigene Bedürfnisse. Da sie dazu neigen, es vielen Menschen recht zu machen (was in der Regel gar nicht gelingt und nicht nur ungesund, sondern geradezu utopisch ist), kommen Überangepasste oft zu kurz. Wie kann es weitergehen?

Nach dem Telefonat schauen Sie verstohlen auf Ihre unfertige Aufgabe. Doch Ihr Blick wandert weiter in Richtung des schon seit Tagen angebräunten Herdes und Sie entschließen sich mit einem tiefen Seufzer, ihn zu reinigen. Anschließend stecken Sie sich vielleicht genussvoll eine Zigarette an und trinken Tee oder Kaffee. Und während Sie sich nun schmunzelnder Weise wieder einmal Ihren Tagträumen hingeben, erschüttert Sie der Blick in Richtung Spüle und konfrontiert Sie hart mit einer weiteren Realität. Es ist der schon seit Tagen in Vergessenheit geratene Abwasch, der aus Ihrem soeben noch faltenfreien Gesicht die reinste Gebirgslandschaft werden lässt. Doch zum Abwaschen haben Sie nun überhaupt keine Lust. Stattdessen schalten Sie Musik ein, um diesem jämmerlichen Anblick wenigstens ein wenig Ohrenschmaus hinzuzufügen.  Mit anderen Worten: Sie agitieren. Agitierende Menschen wirken nach außen hin mitunter sehr geschäftig, da viel Energie aufgebracht wird, die allerdings nicht zielgerichtet eingesetzt wird. Von daher sind sie oft rastlos und warten bis zur letzten Sekunde, um das anstehende Problem dann mit viel Nachdruck tatsächlich noch zu lösen.

Kommen wir zu den zwei letzten Möglichkeiten passiven Verhaltens: Implosion und Explosion. Im Falle der Implosion ‚meistert‘ der Betreffende die für ihn unangenehme Situation, indem er sich ‚unfähig macht‘, bspw. durch Sätze wie ‚Ich kann keine Hausarbeit schreiben‘, ‚Diese Aufgabe bringt mich fast um‘. Je drastischer ein Mensch sein Leben inszeniert, desto seltsamer muten seine Strategien an: Man legt sich frustriert ins Bett und schläft, Weinkrampf, Flucht in eine Krankheit. Explosion ist nun genau das Gegenteil: Die Energie wird gebündelt und unangemessen ausagiert bspw. in Form von Aggressionen bis hin zur Gewaltanwendung. In unserer kleinen Geschichte könnte der Betreffende vor lauter Wut über seine unerledigte Hausarbeit seinen Partner anraunzen. Wer jedoch explosive Energie ausagiert, mag sich kurzfristig wohlfühlen, löst damit aber nicht das anstehende Problem. Solange Sie passiv bleiben, hoffen Sie unbewusst darauf, dass andere Ihre Probleme und Schwierigkeiten für Sie lösen.