Die früh-orale Kindheitsphase umfasst die ersten sechs Lebensmonate und aus ihr können sich mögliche schizoide Entwicklungen ergeben.
Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Baby, psychologisch betrachtet, nichts anderes als ein “Bedürfnisknubbel”. Es schreit, wenn es sich unwohl fühlt (Hunger, Durst, Kälte, Dunkelheit etc.), spielt selbstgenügsam mit seinen Extremitäten oder freut sich über die Gegenwart eines Spielzeugs oder auch der Eltern. In diesem Stadi-um (O – 6. Lebensmonat) befindet sich das Baby in der sogenannten “früh-oralen” oder auch “schizoiden” Phase. Es ist die Phase, in der es entweder Ur-Vertrauen oder Ur-Mißtrauen entwickelt, je nachdem, welche elterlichen Botschaften (Ein-schärfungen) das Baby vor allem durch den Blickkontakt mit der Mutter oder Er-satzmutter verinnerlicht. Werden in diesem Alter bestimmte elterliche Einschär-fung “akzeptiert”, weil es Ähnlichkeiten gibt zu der eigenen anlagemäßigen Struktur, dann werden Überlebensentscheidung getroffen, d.h. das Kind “ent-scheidet” sich für die eine oder andere Botschaft, um Katastrophaleres abzuwen-den. Die Summe aller Überlebensschlußfolgerungen legen dann den Bezugsrah-men fest. Der Betreffende organisiert jetzt sein Leben gemäß frühkindlich ge-troffener Überlebensstrategien, die ein lebendiges und fröhliches Leben durchaus verhindern können.
Im ersten Lebensjahr ist es für ein Kind besonders wichtig, eine annehmbare und vertrauenserweckende Umwelt vorzufinden, um sich geborgen fühlen zu können. Du brauchtest ein angemessenes Maß an stimulierenden Reizen gleichermaßen wie wohltuende Ruhe. Wenn du einen stabilen anregungsreichen Rahmen vorge-funden hast, der auch zärtliche Berührungen deines Körpers eingeschlossen hat, waren deine Bedingungen für eine gelungene Entwicklung gut und du konntest dich vertrauensvoll der Umwelt zuwenden und dein Ich stärken. Bei der nicht gelungenen Entwicklung mißtraut das Kind seiner Umwelt. Es lernt, psychisch zu überleben, indem es sich ängstlich und irritiert vor der Welt verschließt, weil die erlebte Welt “leer” war, also keine Anregungen mit sich führte oder überhäuft war an Reizüberflutung. Vielleicht fehlte die Stabilität der Um- welt, war die Umwelt zu unruhig oder überfordernd. Vielleicht wurde das Kind auch zu früh von seiner Mutter getrennt (Klinikaufenthalt, Verlust der Mutter) oder es fand eine Mutter vor, die sich lieblos, ablehnend und gleichgültig verhielt.
Um zu überleben, mußte das Kind aus der notvollen Erfahrung der Leere oder der Reizüberflutung seiner Welt eine Tugend machen, und es lernte, sich vor der Welt zu verbarrikadieren, indem es sich zurückzog. Weil es keine Wärme und Gebor-genheit fühlen konnte, wurde es um seine Daseinsberechtigung betrogen. Es konnte weder Sicherheit in der äußeren Welt noch in sich selbst finden. So ent-stand das Lebensgefühl, auf dünnem Eis zu stehen und vom Einbrechen bedroht zu sein. Aus dieser Erfahrung heraus müßte das Kleinkind versuchen, sich unver-letzlich zu machen.
Dazu Fritz Riemann:
“Wie kann man sich unverletzlich machen? Offenbar indem man sich gefühlsmä-ßig nicht mehr erreichen läßt, indem man gleichsam mit einer Tarnkappe uner-kannt und anonym durch die Welt geht. Man legt sich eine glatte Fassade zu, hin-ter die niemand blicken kann, so daß andere nie wissen, woran sie mit einem sind. Soweit dennoch Gefühle nicht vermeidbar sind, entwickelt man die Fähigkeit, sie bewußt zu steuern, zu dosieren. Man reflektiert sie also und lernt es, sie bewußt zuzulassen oder abzustellen, wird sich ihnen aber keinesfalls spontan überlassen, denn das könnte gefährlich werden” Und an anderer Stelle: “Die Folge aller be-schriebenen Störungen ist jedenfalls, daß das Kind sich von Beginn an gegen die Welt wehren und vor ihr schützen muß, oder von ihr enttäuscht wird. Wenn es draußen keinen adäquaten Partner findet, greift es auf sich selbst zurück, nimmt sich selbst zum Partner, und vollzieht den Schritt von sich weg auf das Du hin un-zureichend.”
Das Selbst eines solchen Menschen ist nicht nur ungenügend entfaltet, es ist in sich gebrochen. So trennt es sein Selbst von der Welt, sein Ich vom Du, sein Füh-len vom Denken.
Die wichtigste Botschaft, die jedem Kind vor allem in dieser Phase zuteil werden sollte, lautet: Es ist schön, daß es dich gibt.
Lege an dieser Stelle eine Lesepause ein und laß den Satz auf dich wirken. Spüre nach, inwieweit dieser Satz dich gefühlsmäßig bewegt und schreibe dir dann all die Dinge auf, die dir zu diesem Satz eingefallen sind.
Doch nicht alle Menschen haben die Erlaubnis, Leben zu dürfen, verbal oder non-verbal bekommen. Der Mensch mit schizoider Persönlichkeitsstruktur hat statt-dessen Ablehnung, Ignoration oder gar Verachtung erfahren, entweder real oder in der Phantasie. Das kleine, hilflose und der Mutter vollkommen ausgelieferte Baby sucht mit seinen Augen Halt, Geborgenheit und Sicherheit. Doch stattdes-sen wird ihm Ablehnung zuteil. Das Baby reagiert mit Angst. Es befürchtet zu sterben, weil es in dieser Familie eine Reihe lebensverneinender Botschaften ver-spürt, allen voran die Botschaft: Lebe nicht; es ist besser, du wärest nicht geboren worden! Diese vernichtende Botschaft wird in der Regel begleitet von dem Verbot, das zu fühlen, was es fühlt, nämlich vor allem Wut gegen die haßerfüllte Mutter. Diese Mütter haben als Kinder in der Regel eine ähnliiche Situation durchge-macht und nie lernen können, ihre eingefrorene Liebe (und Haß ist nichts ande-res) wieder aufzutauen. Denn auch sie durften nicht: existieren, Bedürfnisse ha-ben, fühlen, nahe sein, dazugehören, denken und Vertrauen entwickeln. So geben jene Mütter und auch Väter ihre Basisangst, nicht existieren zu dürfen, an ihre Kinder unbewußt weiter.
Je nach anlagemäßiger Struktur hat das Baby nun zwei Möglichkeiten: die Situa-tion regressiv ( in der Hemmung verharrend) oder progressiv (auf Kompensation ausgerichtet) zu bewältigen. Die regressive Lösung geht einher mit Flucht in den Rückzug und geschieht mit Hilfe von Anpassung an die gegebenen Umstände; die progressive mit Flucht nach vorne mittels Identifikation mit dem zerstörerischen Elternteil.
So kann die regressive Lösung lauten: Ich kann diese Situation nur in einem ver-rücktem Zustand ertragen; ich werde ein diabolisches Ungeheuer und bleibe stets passiv; da ich niemandem trauen kann, muß ich alles kontrollieren, einschließlich meiner Gefühle und Bewegungen. Unsere Psychiatrien sind voll von Menschen mit regressiv-schizoider Lösung. Anders hingegen die progressive Lösung, die zwar auch eine Hemmung in der Entwicklung darstellt, aber den Betreffenden sozial akzeptabler erscheinen läßt. Beide Lösungsformen versuchen überwertig das Leben über den Geist zu meistern: der Regressive, indem er geist-los wird und sich im Extremfall in Wahnideen und andere schizophrene Formen (Katatonie, Stupor) flüchtet; der Progressive, indem er sich dem Glauben und der Aufgabe verpflichtet, das Leben eines Heiligen, eines Engels oder eines Genies zu führen. So trifft man diese Menschen als komische “Käuze” an abgelegenen Orten, als Eremit, als zurückgezogenen und scharf denkende und zum Funktionalismus neigende Wissenschaftler, als Satiriker und Kritiker etc. Sie haben gelernt, sich abzugrenzen und allein sein zu können. Ihr Gefühlsleben ist verhalten, doch da-für sind sie umso sensibler. Ihre Sensibilität verstecken sie häufig hinter einer sachlich-kühlen, kritischen und ironischen, aber doch witzigen Art. Ihre differen-zierte Intelligenz gepaart mit scharfer Beobachtungsgabe befähigt sie, die Dinge des Lebens so zu sehen wie sie sind, ohne Schnörkel, ohne Sentimentalität. Kör-perlich fallen sie auf durch ungelenkige und kontraktierte Bewegungen. Das Ge-sicht ist oft maskenhaft, die Augen kontaktarm. Ihre energetischen Blockaden sind im Kopf, in den Augen und im Herzen zu suchen. Da sie ihr Herz verständli-cherweise schon sehr früh verschließen mußten, neigen sie zu einer ausgeprägten, aber oft herz-losen Sexualität. Der Schizoide ist ein Mensch, der sich autonom verhält, ohne wirklich autonom zu sein, denn nur der kann autonom sein, der sich weder kaltherzig distanziert noch in Selbstaufgabe sich unterwirft und ver-zweifelt die symbiotische Einheit sucht.
Sie tendieren dazu, sich ihr Leben so einzurichten, daß sie diese Ablehnung im-mer wieder provozieren. Hierdurch bestätigen sie sich das, was sie schon immer über sich, andere und die Welt glaubten zu wissen, nämlich keine Existenzbe-rechtigung zu haben. Wird dieser Glaubenssatz, keine Existenzberechtigung zu haben, in den Bezugsrahmen aufgenommen und zum Lebensstil erhoben, dann werden sehr häufig nur noch die Informationen vom Bezugsrahmen akzeptiert, die diesen Glaubenssatz bestätigen.